Der Bestatter von nebenan

Zwischen der Aemtlerwiese und dem Friedhof Sihlfeld liegt ein Ort, mit dem am Ende ihres Lebens alle Zürcher Kontakt haben werden.

Text und Bilder: Ivo Mijnssen


In der Wiediker Basis des Bestattungsamtes, wo Christoph Stüssi arbeitet,
werden alle Todesfälle der Stadt erfasst.


Tagein und tagaus fahren die schwarzen Mercedes durch die Saumstrasse. Nur wer genau hinschaut, bemerkt den dezenten Schriftzug an der Tür: «Bestattungsamt». Und doch treten alle 3500 Menschen, die jedes Jahr in der Stadt sterben, in diesen Fahrzeugen ihre letzte Reise an. «Jeder Zürcher zahlt mit seinen Steuern zu Lebzeiten für den Transport, einen gepolsterten Züri-Sarg und ein Bestattungshemd», erklärt Christoph Stüssi. Er ist einer von 12 Bestattern, die im städtischen Sarglager tätig sind. Der karge Betonbau mit den schönen Glasstein-Fenstern liegt zwischen Aemtlerwiese und Friedhof Sihlfeld in der grössten grünen Lunge Zürichs.

Der 49-jährige Stüssi liebt seine Arbeit – sie ist für ihn eine Berufung. Das wusste er bereits vor dreissig Jahren, als er im Rahmen eines Einsatzes für das Katastrophenhilfekorps zum ersten Mal eine Tote berührte. Doch Stüssi ist weder morbid noch düster; wenn er von seiner Arbeit erzählt, tut er dies mit Leidenschaft und Schalk. Er weiss, wie wichtig seine Arbeit ist, denn nach dem Tod, der zu Hause, auf einem Spazierweg, im Spital oder unter einem Tram eintreten kann, sind die Bestatter immer unter den ersten vor Ort. Sie treffen auf trauernde, erleichterte, schockierte, zuweilen auch aggressive Hinterbliebene. «Du machst die Tür auf und – zack – bist du plötzlich im Intimsten», sagt Stüssi.

Es ist ein intensiver Kontakt, der Fingerspitzengefühl erfordert. «Gut zuhören, gut zuschauen» müsse er,"


Es ist ein intensiver Kontakt, der Fingerspitzengefühl erfordert. «Gut zuhören, gut zuschauen» müsse er, herausspüren, was die Leute wollten. Er sei da, um zu helfen. Eine grosse Verantwortung und eine harte Arbeit, auch körperlich: Verstorbene sind schwer, schwere Verstorbene noch schwerer, sie durch enge Treppenhäuser zu tragen, eine logistische Herausforderung. Stüssi und seine Kollegen wissen viel über den Tod, sie wissen, welche Körperteile rasch gekühlt werden müssen, wie schwer ein Babysarg ist, wie man grosse und kleinere Wunden näht, wie Verwesung riecht. Wie geht er damit um? Viel hänge von seiner Team-Partnerin ab – die beiden pflegen eine kurze und intensive Psychohygiene durch Gespräche. Ganz an sich heranlassen dürfe man die Arbeit aber nicht, mahnt Stüssi und markiert mit seinen Händen eine unsichtbare Barriere, zwanzig Zentimeter vor seiner Brust. «Sollte ich je von einem Fall träumen, dann höre ich sofort auf.»

Und doch überwiegen die schönen Momente – wenn er einen Verstorbenen nach Süditalien zur Beerdigung fährt und dort mit der Familie das Liebste, das wieder nach Hause kommt, feiert, oder wenn er unvermittelt auf so fremde wie faszinierende georgische Totenrituale in einer Zürcher Wohnung trifft. Da merkt er, wie nahe der Tod dem Leben ist. Dies gehe in der Schweiz manchmal vergessen, «man igelt sich eher ein, wenn jemand stirbt», bedauert er. «Der Tod ist eine etwas verlorene Kultur hierzulande», dabei sei die Art des Abschieds doch so wichtig. Er ist überzeugt, dass der Umgang mit dem Tod letztlich ein Spiegel der ganzen Gesellschaft ist. «Es geht um die Würde des Menschen», und dieser fühlt sich Stüssi mehr als alles andere verpflichtet.

Der Tod in Zahlen